Biotina


Der Stoff…

aus dem wir gemacht sind

Ihr Körper besteht, abgesehen von Wasser, zum größten Teil aus Eiweiß: Ihre Haut, Ihre Muskeln, Ihre inneren Organe, Ihr Haar, Ihr Gehirn und sogar die Grundsubstanz ihrer Knochen. Nur wenn man hochwertiges Protein zu sich nimmt, kann jede Zelle normal funktionieren und sich selber immer wieder erneuern. Da der Proteingehalt ihrer Muskeln größer ist als in anderen Körpergeweben, können Sie mit einem Blick in den Spiegel ungefähr beurteilen, ob Sie genügend Protein bekommen.

Starke, gut ernährte Muskeln halten den Körper von selbst gerade. Wenn die Muskeln nicht die richtige Nahrung für ihre Erneuerung erhalten, verlieren sie ihre Elastizität genauso wie ausgeleierte Gummibänder, und Ihre Haltung wird schlecht. Eine Mutter, die zu ihrem Kind sagt »Halt dich gerade«, klagt über ihren eigenen Fehler: Sie hat nicht für gute Ernährung gesorgt. Ein gesunder Mensch hält seinen Kopf ohne Mühe hoch, seine Brust nach vorn, seine Schultern gerade und zieht seinen Bauch ein. Er hat nur eine leichte Kurve in der Mitte des Rückens. Das Becken wird fast horizontal gehalten und trägt die Eingeweide wie eine große Salatschüssel ihren Inhalt. Die Fußsohlen haben deutliche Wölbungen, der Schritt ist rhythmisch.

Es ist fast nicht zu glauben, wie schnell man eine schlechte Haltung korrigieren kann. Vor nicht allzu langer Zeit stellte ich für eine 68jährige Frau einen Diätplan auf. Einige Wochen später erzählte sie mir, daß es ihr zum ersten Mal im Leben leichtfalle, sich aufrecht zu halten. Als junges Mädchen waren ihre Schultern so rund, daß sie ihre Mutter bat, ihr ein Stützband zu kaufen. Sie hatte nie richtig gerade stehen können, es sei denn für kurze Augenblicke und unter äußerster Anstrengung. Endlich wurde ihr Wunsch erfüllt. Einen anderen, sehr erstaunlichen Fall beobachtete ich bei einem dreijährigen Jungen: Seine Brust war eingesunken, er hatte einen enorm aufgetriebenen Bauch und Füße, so flach wie eine Tischplatte.

Drei Monate später hatte dieses Kind eine breite Brust, schön gewölbte Fußsohlen, und der dicke Bauch war verschwunden. Daß gute Haltung und rhythmisch eleganter Gang so selten sind, ist ein Zeichen des weitverbreiteten Proteinmangels.

Auch unsere Haare und Nägel, die gleichfalls aus Protein bestehen, benötigen eine genügende Menge von diesem Nährstoff, um gesund zu bleiben. Wie die Muskeln kann auch das Haar, das unelastisch, unfrisierbar und brüchig geworden ist und keine Dauerwelle mehr hält, wieder gesunden, wenn man sich besser ernährt. Auch die Nägel brechen und reißen nicht mehr, wenn man die Ernährung verbessert. Der Vorteil reichlicher Eiweißernährung ist eben, daß Energie schnell produziert und lange aufrechterhalten werden kann und dadurch das Leben leichter wird. Müdigkeit entsteht zwar hauptsächlich bei niedrigem Blutzucker, doch gibt es auch andere Ursachen, die auf Proteinmangel beruhen und schwerer zu korrigieren sind: niedriger Blutdruck, Anämie und die Unfähigkeit des Körpers, genügend Enzyme zu produzieren, die für die Umwandlung der Nahrung in Energie gebraucht werden.

Blutdruck ist der Druck, den das strömende Blut gegen die Wände der Blutgefäße ausübt. Nur wenn das Gewebe der Gefäßwände kräftig ist, kann der Blutdruck auf normalem Niveau gehalten werden. Wenn die Gewebe schlaff und schwach werden, geben sie nach und die Gefäße erweitern sich. Da das Blutvolumen gleichbleibt, drückt das Blut mit weniger Kraft gegen die Wände. Jetzt wird weniger Blutplasma, das alle Nährstoffe mit sich trägt, in die Gewebe gedrückt, und die Zellen haben nicht mehr genügend Vorrat. Das Ergebnis ist Müdigkeit. Da man sich während der Nacht am meisten entspannt, fühlt sich ein Mensch mit niedrigem Blutdruck am frühen Morgen am elendsten. Das Aufstehen ist eine schwere Aufgabe, und meistens ist er reizbar und unlustig, bis sein Blutdruck durch die stimulierende Wirkung von starkem Kaffee angestiegen ist. Wenn man aber die Ernährung korrigiert, wird der Blutdruck gewöhnlich in ein bis drei Wochen normal. Hauptsächlich bei Frauen und Kindern kennt man noch einen anderen Grund für Müdigkeit: nämlich Blutarmut, das heißt Mangel an roten Blutkörperchen, die fast gänzlich aus Protein bestehen. Wenn man nicht genügend Protein bekommt, kann es leicht zu Blutarmut kommen, die sich erst bessert, wenn die Ernährung korrigiert ist. Blutarmut kann jedoch durch viele Arten von Ernährungsschäden entstehen.

Alle Energie wird mit Hilfe von Enzymen produziert, organischen Substanzen, deren Hauptbestandteil Protein ist. Vitamine sind nur deshalb wichtig, weil sie Bestandteil von gewissen Enzymen sind. Keines der Enzyme kann jedoch in genügenden Mengen hergestellt werden, wenn nicht genug Protein zur Verfügung steht. Müdigkeit ist nur eine der krankhaften Folgeerscheinungen.

Wenn man in reichlichen Mengen Protein bekommt und die Ernährung auch sonst hochwertig ist, kann man eine hohe Widerstandskraft gegen Krankheiten und Infektionen erwarten. Obwohl eine ganze Reihe von Mechanismen dem Körper helfen, sich gegen Infektionen zu schützen, gibt es zwei, die ganz besonders von der Proteinzufuhr abhängig sind: Antikörper und weiße Blutkörperchen. Unter normalen Umständen produziert die Leber Eiweißkörper, die Gamma-Globulin genannt werden und deren Aufgabe es ist, sich als Antikörper mit verschiedenen Bakterien, Bakteriengiften und wahrscheinlich auch mit Viren zu verbinden und sie so unschädlich zu machen. Wenn man Menschen untersucht, die gegenüber fast jeder Art von bakteriellen oder Virusinfektionen sehr anfällig sind, dann zeigt es sich immer, daß sie zu wenig Gamma-Globulin im Blut haben. Diese Bluteiweißkörper wachen also über unsere Gesundheit wie eine Art Schutztruppe.

In den letzten Jahren propagiert man in der Medizin ein neues Verfahren für die Behandlung und Vorbeugung von Infektionen: Man gewinnt Gamma-Globulin aus dem Blutplasma von Gesunden mit guter Infektabwehrfunktion und verabreicht dieses an Kranke mit schlechterem Ernährungs- und Allgemeinzustand. Diese Behandlung wurde weit und breit auch als Vorbeugungsmittel gegen Erkältungskrankheiten hoch gelobt. Wenn Sie sich aber vernünftig ernähren, kann Ihr Körper alle Antikörper, die er braucht – und noch mehr – selbst herstellen. Doch eignet sich diese einfache Wahrheit nicht für lautstarke Propaganda. Dabei hat es sich bei Experimenten herausgestellt, daß bei erhöhter Zufuhr von wertvollem Protein die Produktion der Antikörper in einer Woche um das Hundertfache ansteigt.

Eine andere wunderbare Einrichtung, die dazu beiträgt, unseren Körper vor Infektionen zu schützen, ist die Produktion von Zellen, die man Phagozyten (»Freßzellen«) nennt. Einige dieser Zellen zirkulieren in der Lymphe und im Blut. Andere Phagozyten sind stationär und verbleiben in den Wänden der Blutgefäße, in den kleinen Lungenbläschen und in anderen Geweben, wo sie, genauso wie die Antikörper, Wache halten. Wenn Bakterien in den Körper eindringen, werden Phagozyten mobilisiert, sie kreisen den Feind ein und verschlingen ihn. Diese wertvollen »Freßzellen« bestehen aus Protein und werden nur dann in genügenden Mengen produziert, wenn hochwertiges Protein verzehrt wird.

Man braucht aber auch genügend Protein, um die Verdauung gesund zu halten. Da die Enzyme, die gebraucht werden, um unsere Nahrung wasserlöslich zu machen, damit sie ins Blut übergehen kann, aus Protein bestehen, können der Magen, der Dünndarm und das Pankreas nur dann Enzyme ausschütten, wenn genügend Protein vorhanden ist. Die Magen- und Darmwände bestehen weitgehend aus Muskulatur; sie ziehen sich wie andere Muskeln abwechselnd zusammen und entspannen sich wieder. Auf diese Weise mischen sie die Speisen mit Verdauungssäften und Enzymen und bringen die bereits verdaute Nahrung in Berührung mit der Darmwand, durch die sie ins Blut aufgenommen werden kann.

Weiterhin muß der ganze Verdauungsapparat richtig gelagert sein, um ordnungsgemäß arbeiten zu können. Wenn zu wenig Protein vorhanden ist, erschlaffen die Muskelwände und die dazwischenliegenden Sehnen, die »innere Haltung« geht verloren. Der Magen senkt sich, der Dickdarm verlagert sich abwärts gegen das knöcherne Becken, die Gebärmutter oder Blase können gleichsam »kippen« und andere innere Organe sich verschieben. Die schlaffen Muskeln der Darmwände ziehen sich nicht mehr normal zusammen, und ein Teil der Nahrung bleibt unverdaut. Unverdautes Essen im Dickdarm bewirkt jedoch das Wachstum von Milliarden schädlicher Bakterien. Es bilden sich Gase, und man leidet unter Blähungen. Da die schlaffen Muskeln nicht imstande sind, auf normale Weise die Verdauungsprodukte aus dem Körper zu entfernen, kommt es oft zu Verstopfung. Nun werden Abführmittel genommen, die das Essen beschleunigt durch den Körper treiben, bevor das darin enthaltene Protein verdaut werden kann; oder man macht Darmspülungen, die den erschöpften Muskeln noch weiter schaden. Eine so gestörte Verdauung kann nur gesunden, wenn eine in jeder Hinsicht ausreichende Eiweißzufuhr gewährleistet ist.

Proteine tragen ferner dazu bei, die Körpersäfte nicht zu sauer oder zu alkalisch werden zu lassen. Sie können sich mit sauren oder alkalischen Stoffen verbinden und diese neutralisieren. Sie sind weiterhin das Rohmaterial, aus dem die meisten Hormone entstehen. Proteine helfen auch mit, die normale Blutgerinnung zu ermöglichen. Sie haben unendlich viele Aufgaben, ohne die das Leben nicht möglich wäre.

Eine weitere, sehr wichtige Rolle der Eiweißkörper bei der Regulierung der Lebensvorgänge muß kurz erwähnt werden. Unter der Voraussetzung, daß alle Bausteine durch die Nahrungsaufnahme bereitgestellt werden, stellt die Leber ein Protein her, das als »Albumin« bekannt ist und entscheidend bei den Entgiftungsfunktionen des Körpers mitwirkt. Wenn das Blut durch die Blutgefäße zirkuliert, wird durch den Blutdruck Plasma in die Gewebe gepreßt. Wenn nun das Blut auf diese Weise eingedickt ist, dann zieht das Albumin Gewebeflüssigkeit aus den Zellen wieder in das Blut zurück. In dieser Flüssigkeit sind Abfallstoffe wie Harnstoff, Harnsäure, Kohlendioxyd und anderes Abbaumaterial in flüssiger Form enthalten. Diese Abfälle werden dann zu den Nieren und den Lungen transportiert, wo sie ausgeschieden werden.

Wenn infolge fehlerhafter Ernährung nicht genügend Albumin erzeugt werden kann, werden die Abfallstoffe nicht vollständig aus dem Gewebe ausgeschieden. Ein mäßiger Proteinmangel kann viele Wochen und Monate bestehen, ehe man das angesammelte Wasser in den Geweben bemerkt. Die betroffene Person glaubt, sie habe zugenommen, und versucht abzunehmen, indem sie noch weniger Protein zu sich nimmt. Wenn der Mangelzustand sich verschlimmert, dann sieht man deutlich, daß die Gewebe aufgeschwemmt sind und der ganze Körper voller Wasser ist. Am Abend schwellen vorwiegend die Fußgelenke an; morgens sind Gesicht und Hände geschwollen, und dicke Säcke hängen unter den Augen.

Dieser Zustand ist bei Menschen jeden Alters außerordentlich häufig. Die meisten Abmagerungsdiäten sind heutzutage genügend eiweißreich. Es ist daher nicht ungewöhnlich, daß jemand, der 1000 Kalorien pro Tag erhält, acht oder zehn Pfund während der ersten Woche abnimmt. Drei Pfund davon können Fett sein, der Rest besteht gewöhnlich aus Wasser, das festgehalten wurde, weil vorher die Ausscheidungsfunktionen unzureichend waren. Kürzlich verlor eine junge Frau, für die ich eine Abmagerungsdiät zusammengestellt hatte, 18 Pfund während der ersten Woche. Zwei Frauen, deren Knöchel und Beine stark angeschwollen waren, nahmen 18 bzw. 24 Pfund in zwei Monaten ab, obwohl keine von beiden eine Abmagerungsdiät erhalten hatte.

Leider täuscht das Wasser, das in den Geweben festgehalten wird, mitunter ein Bild von Molligkeit vor, das bei vielen Menschen, und zwar besonders bei Kindern, den Anschein von Gesundheit erweckt. Daher wird dieser durchaus krankhafte Zustand oft verkannt. Untersuchungen an Kindern, die an Lungenentzündung und anderen Erkrankungen litten, haben ergeben, daß der Gehalt an Bluteiweißstoffen – und zwar sowohl Albumin als auch Globulin – äußerst niedrig und schon lange vor Ausbruch der Krankheit unzulänglich gewesen war. Kinder, die wegen Diarrhöen oder Infekten verschiedener Art stationär behandelt werden, haben oft so starke Wasserödeme, daß sie fett zu sein scheinen. Erhalten sie dann eine eiweißreiche Kost, damit die Ausscheidung wieder auf normale Weise funktioniert, so magern sie zunächst stark ab.

Meine Überzeugung ist: Nur wenn man versteht, welche Rolle das Eiweiß (Protein) bei Aufbau und Erhaltung der Gesundheit spielt, gibt man sich genügend Mühe, die Nahrung so zusammenzustellen, wie es die Gesundheit erfordert.

Quelle: Adelle Davis: „Jeder kann gesund sein“, Originaltitel: „Let’s eat right to keep fit“ (1970) – Das Buch ist in Deutschland leider nicht mehr erhältlich.

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