Biotina


Der »blaue Montag«

Vitamin B3

Vielleicht ist es doch kein Zufall, daß der eine Mensch fröhlich und der andere verdrießlich ist. Der Schlechtgelaunte mag viel mehr Grund haben, glücklich zu sein, doch er ist nicht in der Lage, sein Glück wegen eines Mangels an Niazin zu genießen. Dieses B-Vitamin ist unter verschiedenen Namen bekannt: als Niazin, Niazinamid, Nikotinsäure, Nikotinsäureamid oder Vitamin B3. Pellagra, Todesursache von Tausenden, beruht im wesentlichen auf einem Mangel an diesem Vitamin.

Deswegen sind gerade diese Mangelzustände besonders gründlich studiert worden.

Die Hauptlieferanten für Niazinamid sind Hefe, Leber, Weizenkeime und Nieren, während Fisch, Muskelfleisch, Eier und Nüsse nicht ganz so ergiebig sind. Bei gesunden Nebennieren und eiweißreicher Ernährung, die auch die Vitamine B2 und B6 enthält, kann in geringem Umfang Niazin im Körper aus der Aminosäure Tryptophan synthetisiert werden. Da Milch fast kein Niazin enthält, kann es bei Säuglingen zu Niazinmangel mit üblichem Durchfall kommen. Durchfall dieser Art kann man binnen eines Tages zum Stehen bringen, wenn man eine Tablette mit 100 Milligramm Niazinamid zerdrückt und entweder direkt auf die Zunge des Kindes legt, oder sie mit Wasser oder Säuglingsnahrung verabreicht. Mutterschaft kann erfreulicher sein, wenn man täglich der Säuglingsnahrung oder dem Trinkwasser Hefe zufügt, und zwar nicht nur als eine Quelle für Niazinamid, sondern für alle B-Vitamine. Meine adoptierten Kinder haben nie eine Flasche bekommen, der ich keine Bierhefe zugefügt hätte.

Bei Testpersonen unter niazinfreier, aber sonst vollwertiger Kost waren die ersten erkennbaren Mangelerscheinungen psychologischer Art. Es kommt zu einer Persönlichkeitsveränderung. Leute, die früher stark, mutig, optimistisch und ohne Lebensangst waren, werden feige, furchtsam, mißtrauisch und verwirrt. Sie machen sich über alles in übertriebener Weise Sorgen und fühlen sich unsicher, sind launisch, vergeßlich und unkooperativ. Depressionen kommen hinzu, die in der Größenordnung zwischen der typischen »Blauer Montags«-Stimmung bis zu Selbstmordideen schwanken. Wenn sich Probleme ergeben, fehlt die Kraft, sie zu überwinden. Zum Glück können solche Depressionen in wenigen Stunden behoben werden, indem man Niazinamid verabreicht.

Bei leichterem Niazinmangel kommt es gewöhnlich zu einem durch Bakterienbesiedlung hervorgerufenen Zungenbeschlag und üblem Mundgeruch. Krebsähnliche Veränderungen und kleine Geschwüre können ebenfalls auftreten. Der Kranke fühlt sich gespannt, nervös, reizbar und leidet unter Schwindel, Schlaflosigkeit, immer wiederkehrenden Kopfschmerzen und Gedächtnisstörungen. Hautsymptome ähneln zunächst einem Sonnenbrand und verschlimmern sich auch durch Sonnenbestrahlung. Später kann die Haut dunkel, trocken und schuppig werden. Gleichzeitig kommt es zu Blutarmut und Verdauungsstörungen. Der Magen ist nicht mehr in der Lage, genügend Enzyme, Verdauungssäfte und Säure, wie sie für die normale Verdauung benötigt werden, herzustellen. Zuerst können Verstopfung und Durchfall sich abwechseln, doch bald wird der Durchfall hartnäckig. Jahrelang habe ich mit Dutzenden von Leuten zu tun gehabt, die so schwere Durchfälle hatten, daß sie deswegen mehrmals stationär behandelt werden mußten. Schon wenige Tage, nachdem ihre Ernährung korrigiert und 100 Milligramm Niazinamid bei jeder Mahlzeit verabreicht worden waren, wurde der Stuhl wieder normal.

Sieht man diesem Mangelzustand tatenlos zu, steigern sich geistige Mattigkeit, Depressionen wie auch Feindseligkeit und argwöhnisches Mißtrauen.

Bei Pellagrakranken sind diese Symptome nur die Vorläufer für allmählich zunehmende Gewalttätigkeit, Desorientierung und Neigung zu Halluzinationen; hoffnungslose Geisteskrankheit ist die Folge. Die Irrenhäuser in den Südstaaten waren früher voll von solchen Patienten.

Dr. Abram Hoffer aus Saskatchewan in Kanada war der erste, der entdeckte, daß große Mengen Niazinamid Schizophrenen helfen kann. Er verabreichte 1000 bis 3000 Milligramm Niazinamid zu jeder Mahlzeit zusammen mit der gleichen Menge Vitamin C und einer eiweißreichen Ernährung, um den Blutzucker normal zu halten. Zwischen 75 und 85 Prozent der so behandelten Schizophrenen erreichten eine Besserung. Doch gab es Rückfälle, wenn man das Niazin absetzte. Viele Irrenanstalten, die diese Ernährungsweise und die Vitaminbehandlung übernommen haben, geben ähnliche Resultate an: bei 75 oder mehr Prozent ihrer schizophrenen Patienten kommt es zu einer Besserung. Manche Psychiater sind erbitterte Gegner dieser Behandlung. Sie behaupten, daß das die Psychotherapie verlängere.

Wer aber mit vielen Patienten von Dr. Hoffer oder mit deren Angehörigen gesprochen hat, kann ihm nur dankbar sein. Vor kurzem erzählte mir eine charmante Frau von offensichtlich hoher Intelligenz, wie sie durch seine Behandlung geheilt wurde. Ihre Krankheit begann, als sie sechs Jahre alt war; 25 Jahre lang war sie in Irrenanstalten ein und aus gegangen. Sie sprach von ihrer ständigen Angst und ihren Depressionen, von ihrem Wunsch, sich das Leben zu nehmen, von der furchtbaren Angst, daß sie ihre eigene kleine Tochter töten könnte; wie sie erfahren mußte, daß ihre Angehörigen sich ihretwegen schämten, und wie sie jeden Morgen schon beim Aufwachen erkannte, daß sie sich auf ihren eigenen Sinn und Verstand nicht verlassen konnte. Das ist die äußerste Verunsicherung, sagte sie. Diese Jahre intensiven Leidens sind fast unvorstellbar, doch Dr. Hoffer hat ihr wieder ein neues Leben gegeben.

Sie hätten sicherlich Ihre Tränen kaum zurückhalten können, wenn Sie gehört hätten, was eine Mutter mir über ihren einzigen Sohn erzählte, der ein gutaussehender Sportler gewesen war und das beste Zeugnis seiner Klasse hatte. Nach einer sehr schweren Prüfung mit unmenschlicher Anstrengung war er in einen Dämmerzustand verfallen, offenbar unfähig, zu hören oder zu sprechen. Er riß sich die Kleider vom Leibe und ließ unter sich. Nach Monaten der Verzweiflung hörten sie von Dr. Hoffers Untersuchungen, und der Kranke wurde geheilt. Später sprach ich selbst mit diesem besonders netten jungen Mann, der jetzt eine erfolgreiche Karriere begonnen hat. Er erzählte mir, daß er einen Rückfall bekommen habe, als es ihm lästig geworden war, Tabletten zu nehmen; die Folge war eine verheerende Stumpfheit, Ratlosigkeit, Depression und Verwirrung. Er versicherte mir dann schnell, daß er nun entschlossen sei, sein Leben lang die ausgezeichnete Kost und die hohe Niazindosis beizubehalten.

Schizophrene, die erst kurze Zeit krank sind, genesen eher als solche, deren Krankheit schon lange Zeit besteht. Dr. Hoffer erzählte jedoch von einem Patienten, der schon 19 Jahre krank war und nach 5 Tagen gesund wurde, als man ihm große Mengen Niazin und Vitamin C gegeben hatte. Menschen mit einer Anlage zur Schizophrenie haben vielleicht einen ungewöhnlich hohe Bedarf an Niazin. Andererseits meinen manche Forscher, daß solche Menschen möglicherweise diese Vitamine, vielleicht aufgrund einer Nebennierenerschöpfung, nicht auf normale Weise verarbeiten können. Zu Zusammenbrüchen dieser Art kommt es gewöhnlich unmittelbar nach einem besonders schweren Streß, oft in der Jugendzeit, wenn der Bedarf an allen Nährstoffen infolge des schnellen Wachstums besonders hoch ist.

Dr. Hoffer und sein Mitarbeiter Dr. Osmond haben einen »HODTest « (den diagnostischen Test nach Hoffer und Osmond) für Schizophrenie ausgearbeitet, der aus einer langen Liste von Fragen besteht. Es soll eine bemerkenswert exakte Methode sein, diese Krankheit festzustellen. Als man diesen Fragebogen einer Anzahl von höheren Schülern vorlegte, zeigte sich bei 15 Prozent eine Anlage zur Schizophrenie, das heißt, daß die jungen Leute psychische Symptome aufwiesen, die für einen Niazinmangel typisch sind. Bei einer Anzahl junger Verbrecher ergab der Test, daß sogar 80 Prozent schizophren veranlagt waren. Auch bei Alkoholikern erbringt der Test sehr ungünstige Werte. Übrigens hat sich gezeigt, daß vollwertige Kost und große Mengen von Niazin und Vitamin C bei wirklich Heilungswilligen sehr gut wirken.

Ein großer Teil der Morde und schweren Verbrechen werden von Schizophrenen verübt. Selbstmord, eine der häufigsten Todesursachen bei Studenten, ist bei Schizophrenen besonders verbreitet. Doch bei Gruppen, die große Mengen Niazinamid erhalten hatten, sank die Selbstmordziffer auf Null. Eines Tages wird man einsehen, daß die hohe Zahl der Verbrechen, die Verluste durch Selbstmord und die Millionen von Alkoholkranken zum Teil durch unsere Nahrungsmittelindustrie verschuldet werden, die ohne Rücksicht auf die Gesundheit den Markt mit überraffinierten und vorbehandelten Produkten überschwemmt, nur um Gewinn zu machen.

Offensichtlich hat Niazinamid nicht die geringste Giftwirkung. Dr. Hoffer berichtet sogar, daß er einer Geisteskranken 1000 Milligramm dieses Vitamins 48 Stunden lang stündlich verabreichte, woraufhin sie geheilt war und blieb. Niazin oder Nikotinsäure allein wirkt allerdings auf die Haut: Etwa eine Stunde nach der Einnahme können Hautröte, fliegende Hitze und Juckreiz auftreten; eine Reaktion, die in der Tat beängstigend sein kann. Jedem, der dieses Vitamin einnehmen will, empfehle ich daher, für den Fall, daß es nicht vom Arzt verschrieben ist, sich zu vergewissern, ob auf der Packung wirklich Niazinamid oder Nikotinsäureamid steht.

Der Bedarf an Niazinamid ist offenbar sehr unterschiedlich. Jahrelang habe ich sogar bei Geisteskranken ausgezeichnete Ergebnisse gesehen, wenn nur 100 Milligramm nach jeder Mahlzeit eingenommen wurden, immer zusammen mit Hefe, Leber und anderen natürlichen Vitaminspendern. Seit ich mehr über Schizophrenie weiß, würde ich jetzt 100 Milligramm Niazinamid täglich empfehlen für alle jungen Menschen, vor allem Studenten und Schülern der höheren Schulen, die unter starkem Streß stehen.Würde man Verbrechern und Gefangenen große Mengen dieses Vitamins geben, bevor man sie auf Bewährung entläßt, könnte vielleicht die Rückfallquote verringert werden.

Gesunde Nahrung beeinflußt das Gehirn genauso wie jeden anderen Teil des Körpers. Bei entsprechender Kost ist der Mensch nicht nur geistig beweglicher, sondern er merkt gewöhnlich auch, daß der »blaue Montag« sich ganz gut vermeiden läßt.

Quelle: Adelle Davis: „Jeder kann gesund sein“, Originaltitel: „Let’s eat right to keep fit“ (1970) – Das Buch ist in Deutschland leider nicht mehr erhältlich.

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