Biotina


Betrachten Sie sich im Spiegel

Die Vitamine B1, B2

Die Vitamine B1, B2 und Niazin werden schon seit längerer Zeit synthtisch hergestellt und sind die billigsten B-Vitamine. Leber ist die reichste natürliche Quelle für Vitamin B2 oder Riboflavin, Hefe folgt an zweiter Stelle. Da diese Nahrungsmittel selten gegessen werden, ist für alle praktischen Zwecke Milch die verläßlichste Quelle. Das Vitamin findet sich ferner in Blattgemüse, kann jedoch nur absorbiert werden, wenn das Gemüse gekocht wird; aus Salatblättern läßt es sich nicht aufnehmen.

Nach Meinung vieler Fachleute ist der Mangel an Vitamin B2 am weitesten verbreitet. Dr. Henry Borsook, der während des Zweiten Weltkrieges Arbeiter der Rüstungsindustrie untersuchte, fand bei annähernd 60 Prozent fortgeschrittene Vitamin-B2-Mangelsymptome. Nach meiner Erfahrung kann man diese Mangelsymptome bei fast jedem Menschen finden, der weniger als einen Liter Milch pro Tag trinkt.

Die Symptome des Vitamin-B2-Mangels sind weitgehend bekannt. Man hat mit Versuchspersonen, die eine sonst vollwertige, aber Vitamin-B2-freie Kost erhielten, Erfahrungen gesammelt. Das häufigste Kennzeichen dieses Mangels ist eine hochrote oder purpurne Verfärbung der Zunge, die möglicherweise durch Blutstagnation in den Geschmacksknospen zustande kommt. Gewisse Veränderungen an den Lippen entstehen jedoch noch früher, wobei anscheinend zuerst die Unterlippe angegriffen wird. Zunächst bilden sich senkrechte Linien oder kleine Runzeln. Später verschwinden diese, und die Lippe erscheint wie gekräuselt rauh, häufig auch aufgesprungen. Mitunter lassen sich Hautlamellen von der Lippe abziehen. Nur allzuoft hat man Gelegenheit, diese Symptome zu sehen, wenn man sich selber im Spiegel anschaut. Die Mundwinkel reißen ein oder platzen, wenn der Mangel sich noch verschlimmert. Diese Risse (Rhagaden) heilen schwer ab oder brechen immer wieder auf. Obwohl sie nicht bluten, sind sie sehr schmerzhaft. Sie können bis zu einer Länge von etwa einem Zentimeter auf die äußere Wangenhaut übergreifen und ebensoweit oder noch weiter im Bereich der Mundschleimhaut. Diese Risse erscheinen oder verschwinden in Abhängigkeit von der Vitamin-B2-Zufuhr. Bei länger bestehendem Mangel bilden sich vom Mund ausstrahlende »Fältchen«, ähnlich denen, die entstehen, wenn der Mund zum Pfeifen gespitzt wird. Diese Falten – ich nenne sie »Pfeifrunzeln« – können bis fast an die Nase reichen. Wenn Lippenrot an diesen »Pfeifrunzeln« hinaufkriecht, ergibt dies einen ungepflegten und lächerlichen Anblick. Da wir meist eitel genug sind, um uns selbst im Spiegel freundlich anzulächeln, werden diese »Pfeifrunzeln« von ihren Trägern kaum bemerkt. Man kann sie nur sehen, wenn das Gesicht entspannt ist.

Bei leichtem oder lange bestehendem Mangel brauchen diese Runzeln nicht unbedingt zu erscheinen. Statt dessen wird die Oberlippe allmählich schmaler und verschwindet oftmals fast ganz. Frauen, die dieses Symptom haben, tragen ihr Lippenrot meistens weit über der Oberlippenlinie auf. Das Verschwinden der Oberlippe sieht man oft bei älteren Leuten, die alle ihren falschen Zähne Schuld daran geben. Doch zeigen Menschen, die ihre eigenen Zähne noch haben, die gleichen Symptome. Ich sehe Pfeifrunzeln und fast verschwundene Oberlippen täglich, oft bei 30jährigen oder noch jüngeren.

Ein frühes Symptom des Vitamin-B2-Mangels ist, daß die Augen lichtempfindlich wie beim Vitamin-A-Mangel werden. Man fühlt sich mit einer dunklen Brille wohler. Wenn die Nahrung genügend Vitamin A und E enthält, ist zwar das Nachtsehen noch normal, doch das Sehvermögen bei Zwielicht oder Dämmerung herabgesetzt. Wenn ein unter Vitamin-B2-Mangel Leidender ein Zimmer betritt, in dem andere die Dämmerung genießen, fragt er ärgerlich: »Warum sitzt ihr hier im Dunkeln?« und macht schleunigst Licht. Obwohl seine Augen empfindlich gegenüber hellem Licht sind, kann er nur bei großer Helligkeit gut arbeiten oder schreiben. Wird der Mangel noch intensiver, tränen die Augen häufig, und die Augenlider jucken und brennen, als ob ein Fremdkörper ins Auge eingedrungen wäre. Menschen in diesem Zustand kann man oft die Augen reiben oder wischen sehen.

Überanstrengte Augen sind häufig blutunterlaufen. Enzyme, die Vitamin B2 enthalten, verbinden sich normalerweise mit Luftsauerstoff, um die Hornhautzellen und die Bindehaut zu versorgen. Steht aber nicht genügend Vitamin zur Verfügung, muß der Körper kleine Blutgefäße bilden, um diese Gewebe mit Sauerstoff zu beliefern. Diese Äderchen, einmal gebildet, bleiben erhalten, können aber bei ausreichendem Vitamin-B-Angebot leerlaufen und stillgelegt werden, bis sie sich im Falle einer erneuten Mangellage wieder füllen. Daher kann es immer wieder zu blutunterlaufenen Augen kommen, sobald die Kost unzureichend ist.

Etwas Ähnliches spielt sich in der Wangenhaut ab. Es bilden sich kleine Blutgefäße in der äußeren Schicht der Haut, die normalerweise gefäßfrei ist. Aus der Nähe betrachtet sind diese Blutgefäße mit bloßem Auge sichtbar, und von weitem verleihen sie den Wangen eine hochrote Farbe. Diese abnormale Färbung (acne rosacea) findet sich im Bereich der Jochbögen unter den Augen, oberhalb der Unterkiefer oder weit seitlich in der Nähe der Ohren. Bei fortgeschrittenen Fällen, sehr häufig bei Alkoholikern, bilden sich diese Blutgefäße in der Haut über der Nase und überziehen manchmal das ganze Gesicht.

Ist die Nahrung entsprechend korrigiert, verschwinden diese Symptome. Die Zeit, die dafür notwendig ist, hängt ab von der Schwere des Zustandes, von der Menge der verabreichten Vitamine und von der Fähigkeit, diese zu absorbieren. Ich habe stark blutunterlaufene Augen gesehen, die in 24 Stunden wieder normal wurden. Die kleinen Blutgefäße in den Wangen werden meist in zwei bis vier Wochen nach Verbesserung der Nahrung wieder unsichtbar, doch kommt es manchmal vor, daß sie sehr hartnäckig sind.

Bei Versuchspersonen, die ohne Vitamin B2 ernährt wurden, wurde die Haut im Bereich der Nase, des Kinns und der Stirn fettig. Kleine Fettablagerungen wie Mitesser bildeten sich unter der Haut. Aufgesprungene Stellen und Risse, ähnlich den Mundwinkelrhagaden, erschienen in den Augenwinkeln. Infolge einer fettähnlichen Absonderung klebten die Wimpern zusammen, insbesondere beim Erwachen am Morgen. Unter der Nase bildeten sich Risse und fettige Krusten. Ich selbst sah solche Symptome selten, aber vielleicht sind sie mir nur nicht aufgefallen.

Bei so verschiedenen Tieren wie Hunden, Enten, Ratten, Hühnern, Affen, Gänsen und sogar Fischen kommt es bei Vitamin-B2-freier Nahrung zu Linsentrübungen, die verschwinden, wenn man das Vitamin rechtzeitig wieder zugibt. Läßt man den Mangel jedoch schlimmer werden, kann der angerichtete Schaden zwar aufgehalten, jedoch nicht mehr repariert werden. Ohne Vitaminzufuhr kommt es zum Erblinden. Ob ein Mangel an Vitamin B2 auch bei Menschen zu Linsentrübungen führt, ist noch umstritten. Dr. Sydenstricker von der Medizinischen Fakultät der Universität Alabama studierte grauen Star und Linsentrübungen bei Personen, die Symptome von mehrfachem Vitamin-B-Mangel aufwiesen. Als man ihnen große Mengen Vitamin B2 zusammen mit einer vollwertigen Nahrung gab, wurden die Augen gewöhnlich in etwa zwei Wochen wieder normal.

Blutunterlaufene Augen und krankhafte Veränderungen an Lippen und Zunge, wie sie bei einem Vitamin-B2-Mangel typisch sind, fanden sich auch bei Menschen, die einen Mangel an einer der zahlreichen Aminosäuren oder an Vitamin B6 hatten. Tiere, denen einer dieser Wirkstoffe fehlt, bekommen Linsentrübungen. Diese Zustände können durch Verabreichung des fehlenden Stoffs, nicht aber durch Vitamin B2 behoben werden. Auf den ersten Blick wirken alle diese Dinge recht verwirrend, doch man muß daran denken, daß Vitamin B2 an sich keine Bedeutung hat; es ist nur Strukturbestandteil vieler Enzyme. Diese Enzyme bestehen zum größten Teil aus Protein, das seinerseits aus essentiellen Aminosäuren zusammengesetzt ist, wobei das Fehlen nur einer Aminosäure die Produktion des Proteins hemmen kann. Nun ist bekannt, daß Vitamin B6 notwendig ist, damit sich die Aminosäuren zum Eiweißteil dieser Enzyme verbinden. Daß Mangelsymptome meist verschwinden, wenn man Vitamin B2 gibt, rührt daher, daß dieses Vitamin häufiger in der Nahrung fehlt als vollwertiges Eiweiß, und Vitamin B6 gewöhnlich zusammen mit Vitamin B2 verabreicht wird. Falls andererseits die Symptome nach Verabreichung von Vitamin B2 nicht verschwinden, kann man einen Mangel an Eiweiß oder Vitamin B6 oder von beiden vermuten. Diese Mangelsymptome werden eher durch den Ausfall von Enzymen als durch das Fehlen eines einzelnen Wirkstoffes bewirkt. All das ist eine Folge des komplizierten Zusammenwirkens der Nährstoffe im Körper und der daraus resultierenden, sich oftmals überschneidenden Mangelerscheinungen. Milch oder Joghurt, die Vitamin B2 liefern, enthalten auch Vitamin B6 und essentielle Aminosäuren. Joghurt liefert Protein in vorverdauter Form und zudem eine ganze Fabrik voller schwerarbeitender Bakterien, die bereitwillig B-Vitamine für den künftigen Gebrauch produzieren.

Viele Leute haben mir erzählt, daß ihre Brille nicht mehr stimmte, nachdem sie zu vernünftiger Ernährung übergegangen waren. Der Augenarzt sagte ihnen, daß die Augen sich wesentlich gebessert hätten. Das ist nur bei absolut vollwertiger Ernährung möglich, obwohl ohne Zweifel Vitamin B2 eine wichtige Rolle spielt. Doch leider kann gute Ernährung viele Sehstörungen, bei denen eine Brille erforderlich ist, nicht korrigieren.

Dennoch ist es eher die Regel als die Ausnahme, daß bei älteren Menschen Sehbehinderungen auf verschiedenartige Ernährungsmängel zurückzuführen sind. Höchstwahrscheinlich sind solche Mängel häufig gerade dann die Ursache des schlechten Sehens, wenn man es für eine unabänderliche Alterserscheinung hält. Ich hielt einmal eine Anzahl Vorträge bei einem Frauenklub; die meisten der Zuhörerinnen waren 60 bis 80 Jahre alt. Mehrmals versuchte ich ohne Erfolg auch nur eine Person in meiner Zuhörerschaft zu finden, die nicht irgendein Zeichen eines Vitamin-B2Mangels aufwies. Bei dieser Gruppe war eine reizende 80jährige Dame, an die ich mich immer erinnern werde. Ihre unteren Augenlider waren so geschwollen, daß sie aussahen, als lastete ein halber Teelöffel Tränen darauf. Sie hatte es aufgegeben zu lesen, zu nähen, ins Kino zu gehen und sogar fernzusehen. Nur zwei Tage nachdem sie ihre Ernährung verbessert hatte, konnte sie schon wieder Zeitung lesen. Ihre Freude war rührend, als sie später wieder für ihre Enkelkinder nähen konnte. Es ist wichtig zu wissen, daß die Augen auch in höherem Alter, wenn älteren Leuten nach landläufiger Meinung bereits vieles verschlossen ist, noch besserungsfähig sind. Unter keinen Umständen sollte man sich mit schlechtem Sehen abfinden, bevor man nicht alles getan hat, sich besser zu ernähren.

Vor Jahren veröffentlichte Dr. Spies eine Studie an Kindern, deren Familien zu arm waren, um Milch kaufen zu können. Er fand bei diesen Kindern typische Alterssymptome wie wässerige, brennende Augen und herabgesetztes Sehvermögen, das sich bald besserte, als die Kinder gut ernährt wurden und Milch erhielten. Der schlimmste Fall, den ich je gesehen habe, war der eines dreijährigen Kindes, das nur Sojamilch bekommen hatte. Diese Art von Sehstörungen läßt sich bei jung und alt gleichermaßen durch vermehrte Zufuhr von Joghurt und Milch, Hefe und Leber beheben.

In Fällen, bei denen die Augen sehr stark blutunterlaufen sind, ist es ratsam, zeitweilig Vitamin B2 einzunehmen. Milchzucker oder Laktose scheint den Bedarf an Vitamin B2 zu steigern, es sei denn, daß die Nahrung genügend Fett enthält. Wenn man eine fettfreie Diät benötigt, sollte man den Gebrauch von Milchpulver und vor allem von Molkenpulver einschränken, insbesondere dann, wenn Vitamin-B2-Mangelsymptome vorliegen.

Die Zeichen eines vielfältigen Ernährungsschadens, die vielleicht vorwiegend auf einen Vitamin-B2-Mangel zurückzuführen sind, sollte man nicht leichtnehmen. Eine Frau, die stolz auf die Farbe ihrer Wangen ist, so daß sie kein Rouge braucht, würde gut daran tun, sich genau im Spiegel zu betrachten. Wahrscheinlich müßte sie ihre Ernährung so schnell wie möglich umstellen.

Quelle: Adelle Davis: „Jeder kann gesund sein“, Originaltitel: „Let’s eat right to keep fit“ (1970) – Das Buch ist in Deutschland leider nicht mehr erhältlich.

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