Biotina


Lebensmittel aus dem Labor

Experten warnen vor neuen Lebensmitteln aus dem Labor, die jetzt die Supermärkte erobern

Die Supermarktregale füllen sich mit immer neuen Heilsbringern: Vitaminsäfte, Margarine mit cholesterinsenkenden Wirkstoffen und Milchprodukte, die den Appetit zügeln oder die Verdauung regulieren sollen. In der Schweiz gibt es bereits Joghurt gegen Bluthochdruck; Hersteller Emmi will ihn bald auch in Deutschland auf den Markt bringen. Derzeit sind europaweit neun cholesterinsenkende Lebensmittel zugelassen; für 70 weitere Produkte liegen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit Anträge vor.

Die Ernährungswirtschaft hat einen neuen Umsatzbringer: Immer häufiger greifen Verbraucher zu funktionellen Lebensmitteln. Die versprechen einen gesundheitlichen Nutzen und heißen in der Fachsprache functional food. Die mit Zusatzstoffen angereicherten Brotaufstriche, Tütensuppen oder Getränke sind meist teurer als herkömmliche Produkte. Den Anfang hatte 1995 Nestlé mit der Joghurtmarke LC1 gemacht, nach Unternehmensangaben »der größte Erfolg seit Einführung des Nescafés«. Die in LC1 enthaltenen Milchsäurebakterien sollen sich positiv auf die Darmflora auswirken.

Unter Ernährungsexperten sind funktionelle Lebensmittel umstritten. Eine im Juni veröffentlichte Studie der Verbraucherzentralen warnt vor einem verfehlten Umgang mit arzneiähnlichen Lifestyleprodukten. Cholesterinsenkende Zusätze etwa hemmten nicht nur die Aufnahme unerwünschter Fette, sondern auch die bestimmter Vitamine. Deswegen müssen auf den Verpackungen Warnhinweise aufgedruckt sein: Nicht geeignet für Schwangere, Stillende und Kinder. Täglich sollen nicht mehr als drei Gramm des medizinisch wirksamen Zusatzes verzehrt werden. Die Verbraucherschützer fanden allerdings heraus, dass nur ein Prozent der Käufer die kleingedruckten Hinweise überhaupt wahrnimmt. »Die Gefahr einer Überdosierung ist groß«, sagt Studienleiterin Christa Bergmann von der Verbraucherzentrale Sachsen-Anhalt.

Auch Coca-Cola arbeitet an neuen Produkten. Der Konzern will seine US-Marke Minute Maid Heart Wise – einen Cholesterinsenker in Form von Orangensaft – auch in Europa anbieten. Aber gerade die Anreicherung alltäglicher Lebensmittel, die in großen Mengen gekauft werden oder bei Kindern beliebt sind, halten Experten für riskant. Bei Brot, Käse oder eben Fruchtsaft rechnet der Kunde nicht mit Neben- oder Wechselwirkungen.

»Hält der Trend an, dann werden wir bald nicht mehr nur Ernährungsberater, sondern auch Toxikologen sein«, sagt Christiana Gerbracht, Leiterin des Beratungszentrums am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam. Als Toxikologie wird die Lehre von den schädlichen Wirkungen chemischer Stoffe auf lebende Organismen bezeichnet. »Problematisch wird es vor allem dann, wenn ein medizinisch wirksames Produkt nicht nur von jenen verwendet wird, deren Cholesterinspiegel zu hoch ist, sondern womöglich von der ganzen Familie.« Der Lebensmittelkonzern Unilever, der die cholesterinsenkende Margarine Becel pro-activ herstellt, hält eine Überdosierung hingegen für unwahrscheinlich. »Aufgrund der erheblichen Preisunterschiede zwischen den Becel-pro-activ- und herkömmlichen Lebensmitteln ist die Gefahr einer Verwechslung der Produkte gering«, erklärt eine Sprecherin.

Der Supermarkt als Apotheke – dieses Szenario hat auch die EU auf den Plan gerufen. Laut einer Brüsseler Verordnung, die bis 2011 umgesetzt werden soll, müssen gesundheitsbezogene Werbeaussagen künftig von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit genehmigt werden. Denn auf den Etiketten mehren sich die Versprechen. Erst Anfang des Jahres brachte der Milchverarbeiter Campina den Trinkjoghurt Optiwell Control auf den Markt. Dieser enthält Fettsäuren, die das natürliche Sättigungsgefühl verstärken und so den Appetit dämpfen sollen. »Das Sättigungsgefühl ist aber eine äußerst subjektive Angelegenheit, und der Nachweis, dass es durch ein bestimmtes Produkt gesteigert wird, ist dementsprechend schwer zu führen«, sagt Ernährungsforscherin Gerbracht. Die Verbraucher greifen dennoch zu. Allein in den ersten drei Monaten nahm Campina mit Optiwell Control rund 1,7 Millionen Euro ein.

Als Klassiker und umsatzstärkstes Produkt im Kühlregal gilt Actimel von Danone. Der Trinkjoghurt enthält Probiotika, das sind Milchsäurebakterien, die im Darm ganz verschiedene Wirkungen entfalten sollen: schädliche Stoffe abbauen, das Immunsystem stärken oder Allergien vorbeugen. Dem Marktforschungsinstitut Information Resources zufolge erlöste Danone damit 2006 allein in Deutschland rund 254 Millionen Euro.

Die Mikroorganismen spalten allerdings die Fachwelt: Zwar wurde ein positiver Effekt einiger Bakterienstämme im Labor nachgewiesen, doch ob dies auch durch die Aufnahme mit der Nahrung erzielt werden kann, ist fraglich. »Dazu müssen immer dieselben Keime in großen Mengen aufgenommen werden, der Verbraucher müsste also täglich immer das gleiche Produkte zu sich nehmen«, erklärt Antje Gahl, die Sprecherin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) in Bonn. Ebenso wie bei anderen Zusätzen sei die Langzeitwirkung von Probiotika noch nicht erforscht.

Die DGE beobachtet den Trend zu functional food insgesamt kritisch: »Fest steht, dass nicht durch den Mehrverzehr solcher Zusätze die Folgen einer jahrzehntelangen ungesunden Ernährungsweise kompensiert werden können.« Die Gefahr, dass den Betroffenen bequeme Lösungen für komplexe Probleme wie Übergewicht vorgegaukelt werden, sieht auch Ernährungsberaterin Gerbracht: »Kontraproduktiv wäre es, wenn funktionelle Lebensmittel zum Alibi für Menschen werden, die ihren Lebensstil langfristig überdenken müssen.«

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